Leidenschaft
Die Akte Ferrari
Vor einem Vierteljahrhundert hat Ferrari beschlossen, ein eigenes offizielles Unternehmensarchiv einzurichten. Die zahlreichen Dokumente und „Erinnerungsstücke“, welche die intime Geschichte eines der berühmtesten Unternehmen der Welt erzählen, sollten an einem Ort zusammengeführt werden. Die Tatsache, dass bereits so viel Material zur Verfügung stand, verrät uns viel über Enzo Ferraris Einstellung und Denkweise.
Schon in seinen Anfängen als Automobilhersteller und Rennfahrer war sich der Firmengründer der Notwendigkeit bewusst, die täglichen Arbeitsabläufe in der Fabrik zu dokumentieren. Dank dieser Weitsicht können die heutigen Rennsportfans Bilder sehen, die aus einer Zeit stammen, lange bevor das „Cavallino Rampante“ zu einem weltberühmten Symbol wurde. Das ständig wachsende Archiv befindet sich in einem eigens dafür vorgesehenen Teil des Werks in der Nähe des berühmten Haupteingangs in der Via Abetone Inferiore in Maranello und bewahrt heute zunehmend digitale Inhalte auf.
Für jedes einzelne Modell, das jemals von der Fabrik produziert wurde, sind Originaldokumente vorhanden – bis zurück zum kleinen 125S, dem ersten in Maranello hergestellten Ferrari, der im Jahr 1947 aus den Werktoren rollte. Die ältesten Bilder im Archiv stammen aus der Zeit vor der Gründung des Werks und zeigen die Kindheit des Gründers in den 1920er Jahren. Andere Aufnahmen zeigen die Bauphase des Werks und der öffentlichen Rennstrecke, die für Tests genutzt wurde, bevor in den 1970er Jahren die Rennstrecke in Fiorano eingerichtet wurde. Bis 2015 wurden rund 60.000 Bilder und 1.000 Videos zusammengetragen. Die lange Formel-1-Geschichte der Scuderia bietet eine enorme Menge an Material, und die Challenge Clienti-Rennserie wird seit ihren Anfängen im Jahr 1993 dokumentiert.
Zeitgenössische Broschüren, Korrespondenz von Sir Stirling Moss … alles im Ferrari-Archiv
Von handgefertigten Originalskizzen bis hin zu hochdetaillierten Fahrzeugentwürfen wird die Entwicklungsgeschichte jedes Serienfahrzeugs sorgfältig archiviert. Dazu zählen unter anderem auch originale technische Spezifikationen oder spannende Briefwechsel. Unter den Briefen, zum Teil handgeschrieben, die Kunden nach ihrem Besuch in Maranello an Enzo Ferrari schickten, befinden sich auch Nachrichten von prominenten Ferrari-Besitzern aus der Blütezeit der „Dolce Vita“, als die Stars aus Hollywood dem italienischen Unternehmen die Türen einrannten.
Im Juni 1987 traf ein getippter Brief von Sir Stirling Moss ein, in dem er mit ausgesprochener Höflichkeit erklärt, er habe in England „Gerüchte gehört“, dass Maranello die Produktion einer begrenzten Anzahl von GTOs mit Allradantrieb plane. „Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir ein Exemplar verkaufen könnten“, so die britische Rennlegende an Enzo, bevor er den Ferrari-Gründer daran erinnert: „Ich glaube, ich bin immer noch der einzige Fahrer, der jemals ein Rennen mit einem Auto mit Allradantrieb gewonnen hat.“ Sir Stirling schließt mit dem Eingeständnis: „Die Vorstellung von einem Ferrari mit der gleichen Konfiguration ist äußerst aufregend.“ Ferrari, ganz Geschäftsmann, antwortete Sir Stirling brüsk, dass es „ganz seine Entscheidung“ sei, ob er das Fahrzeug auf einem Anhänger nach Hause bringen oder den ganzen Weg zurück nach England am Steuer des neuen Autos fahren wollte.
Zur gleichen Zeit war die italienische Filmregisseurin Liliana Cavani nach einem bewegenden Besuch in Maranello so angetan, dass sie in ihrem getippten Dankesbrief vorschlug, einen Film über den Ferrari-Gründer zu drehen, den sie als „il Grande Saggio“ – den „großen Weisen“ – bezeichnet. Darüber hinaus sind Nachrichten von Ingenieuren, Designern, Kunden, Rennfahrern, Mechanikern und einfachen Ferrari-Fans zu finden, die schon lange nicht mehr am Leben sind – doch sie leben in den archivierten Briefen weiter. Berge von Fotos und Filmmaterial erwecken die Rennsportgeschichte der Scuderia zum Leben, von den „Gentlemen Drivers“, der „Schwarz-Weiß“-Ära bis hin zu den Profisport-Megastars der Gegenwart.
Die Archivkategorien umfassen die Bereiche Briefe, Tonmaterial, Personen & Ereignisse, Kommunikation, Kundendienst, Produktion, Innovation, Geschichte, Design, Motoren sowie Forschung & Entwicklung. Rund 2.000 „Stücke“ aus den Archiven werden derzeit im Enzo Ferrari-Museum in Modena ausgestellt und ergänzen die Supercars-Ausstellung. Sie zeigen den Besucherinnen und Besuchern die Weitsicht des Gründers, der bewusst Erinnerungsstücke aus den frühesten Tagen der Ferrari-Geschichte aufbewahrt hatte.