Rennen
Zehn Saisons in Rot
Als Charles Leclerc das erste Mal nach Maranello kam, ließ man ihn am Tor stehen. „Es war das Frühjahr 2010 und ich war mit Jules Bianchi nach Fiorano gekommen. Jules war damals Fahrer der Ferrari Driver Academy“, erinnert sich Charles. „Jules musste im Fitnessraum einige körperliche Tests durchführen, doch als wir am Tor ankamen, sah der Wachmann, dass ich nicht angemeldet war – und zu allem Überfluss auch noch minderjährig: Ich war erst 12. Also stand ich dort auf dem Parkplatz und konnte mir nur vorstellen, was sich wohl hinter diesem Tor befand, das mir die Sicht versperrte.“
Doch alles nicht so schlimm.
Charles holte diese Erfahrung einige Jahre später nach, genauer gesagt am 10. Mai 2016, den er noch heute als „einen der besten Tage meines Lebens“ bezeichnet. Im Beisein seiner Mutter und seines Vaters feierte er als Teil der Ferrari Driver Academy sein Debüt in Rot auf derselben Strecke zu der ihm nur sechs Jahre zuvor der Zugang verwehrt worden war. Am Steuer eines F14 T legte er 300 Kilometer zurück, die Distanz, die erforderlich ist, um an einem freien Training an einem Grand-Prix-Wochenende teilnehmen zu dürfen.
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Seine Jahre bei der Ferrari Driver Academy prägten Charles sowohl als Fahrer als auch als Mensch.
„Einige meiner engsten Freundschaften sind dort entstanden, zum Beispiel mit Antonio Fuoco und Giuliano Alesi, und wir stehen uns immer noch sehr nahe. Unsere Zimmer befanden sich im obersten Stockwerk des kleinen Hauses an der Rennstrecke von Fiorano, und es war ein unglaubliches Gefühl, abends am Büro vorbeizugehen, das einst Enzo Ferrari gehörte. Rückblickend habe ich das Gefühl, dass die Zeit wie im Flug vergangen ist.“
In gewisser Weise ist Maranello für Charles zu einem zweiten Zuhause geworden: „Hier ist mein soziales Leben, hier sind meine Freunde. Ferrari ist mehr als nur ein weltberühmter Name, mehr als nur erstaunliche Autos. Es ist ein Ort, den ich für mein Leben gerne besuche. Ich liebe es zu sehen, wie ein Auto Schritt für Schritt zum Leben erwacht, von der ersten Idee über die Skizzen bis hin zur Montage und der ersten Fahrt auf der Straße oder Rennstrecke. Und diese Gefühle werden nicht schwächer; sie werden mit der Zeit nur immer stärker.“
Dieses Jahr ist Charles Leclercs zehnte Saison als Ferrari-Fahrer. Eine Saison, die nicht besonders gut begonnen hat, aber das Potenzial hat, eine bedeutende zu werden. „Der SF-25 ist ein Auto mit großem Potenzial, und es liegt an uns, dieses Potenzial zu nutzen“, so Charles. „Lewis’ Sieg beim Sprint in China zeigt uns, dass wir an der Spitze mitkämpfen können, wenn wir unser Gesamtpaket verbessern. Und wir werden alles tun, um konsequent daran zu arbeiten. Wir müssen noch einiges darüber lernen, wie wir das Beste aus dem SF-25 herausholen können. Im Moment fehlen uns noch ein paar Zehntelsekunden, um wirkliche Siegeschancen zu haben. Ich habe volles Vertrauen in das Team und glaube, dass wir bald in der Lage sein werden, McLaren, Red Bull und Mercedes herauszufordern.“
Vom F2-Titel über F1-Rennsiege bis hin zur Zusammenarbeit mit Lewis – Charles hat eine beeindruckende Reise hinter sich
Charles konnte schnell aufsteigen und obwohl er von Anfang an großes Potenzial zeigte, war das Steuern eines Ferraris zu Beginn seiner Karriere nichts weiter als ein ferner Traum. „In meinem ersten Jahr bin ich in der GP3 angetreten und habe dann 2017 den F2-Titel gewonnen. Aber wissen Sie eigentlich, wie viele Leute nur darauf warten, dass man nach einem großen Sieg einen Fehler macht? Nichts war sicher, nicht einmal, als ich 2018 mit Sauber in der Formel 1 anfing. Denn der Wechsel von der Formel 2 in die Formel 1 ist ein Quantensprung – alles ist anders, von den Autos bis zur Organisation. Und natürlich gibt es mehr Druck.“
2019 – als Charles' Traum, für Ferrari anzutreten, wahr wurde – wuchs der Druck sogar noch einmal. „In dieser Saison habe ich viel gelernt. Zum Beispiel, sich nicht zu viele Gedanken über die Testfahrten zu machen, denn was zählt, sind das Qualifying und die Rennen. Oder zu sehr zu pushen und am Ende vermeidbare Fehler zu machen, wie im Qualifying in Baku. Aber es war auch die Saison meiner ersten Pole Position in Bahrain. Auch das Rennen am nächsten Tag verlief nach Plan, bis mich ein Problem mit dem Motor in den letzten Runden um den Sieg brachte. Ich musste mich noch ein paar Monate gedulden, bis ich endlich ganz oben auf dem Podium stand, nämlich in Spa, und dann – noch besser – gleich in der nächsten Woche wieder in Monza, vor einem unvergesslichen Meer aus Rot.“
Zehn Saisons nach seinem Eintritt in die Ferrari Driver Academy ist Charles so engagiert wie eh und je
Dieses besondere Gefühl wiederholte sich für Charles im vergangenen Jahr mit zwei ganz besonderen Siegen.
„Zuerst kam der Sieg beim Heimrennen in Monaco. Dieses Rennen schien wie verflucht: In der Vergangenheit war immer etwas schiefgegangen, entweder im Qualifying oder während des Rennens. Aber dieses Mal lief alles perfekt, ich holte die Pole Position und führte von Anfang bis Ende. Es war ein wunderbares Gefühl, dort zu gewinnen, wo ich geboren und aufgewachsen bin, auf Straßen, über die ich schon tausendmal gefahren bin. Vielleicht dachte ich deshalb, dass es nicht ganz so bewegend für mich wäre, wenn ich in Monza noch einmal gewinnen würde. Aber nein, Monza ist Monza. Man blickt von der Siegertreppe hinab und sieht all die Menschen, die wegen Ferrari gekommen sind. Natürlich beginnt da das Herz wie wild zu pochen.“
Zu Beginn der laufenden Saison befindet sich Charles in der seltsamen Situation, der jüngere Fahrer des Ferrari-Fahrerduos zu sein – doch zugleich ist er ein alter Hase.
„In den letzten Jahren in der Formel 1 hatte ich immer fantastische Teamkollegen. Zuerst Seb (Vettel), der stets hart an sich arbeitet, und ich konnte aus nächster Nähe sehen, wie viel Aufmerksamkeit er selbst dem kleinsten Detail widmet. Ich habe viel von ihm gelernt. Dann kamen vier Jahre mit Carlos (Sainz): Seine Fähigkeit, sich schnell an alle möglichen Situationen anzupassen, habe ich immer ein wenig beneidet. Und jetzt Lewis, der ein einzigartiges Talent und eine Legende im Motorsport ist.“